Lebensmut in schwierigen Zeiten

Oder auch: „Wem das Wasser bis zum Halse steht, der soll den Kopf nicht hängen lassen!

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Viktor Frankl – Arzt, Psychologe, Philosoph

Viktor Frankl leitete in den Dreißigerjahren des 20sten Jahrhunderts in einer Wiener Klinik die Selbstmörder-Abteilung. „Welchen Sinn hat mein Leben noch?“ – Das war der Zweifel, mit dem ihn seine Patienten täglich konfrontierten.

Im therapeutischen Gespräch leitete er dazu an, die Richtung der Frage umzukehren. Es „hat“ ja kein Leben automatisch Sinn. Das Leben „schuldet“ uns auch nichts – wie käme es dazu?! Aber jedes Leben ist ein Raum von Möglichkeiten, in dem wir uns täglich vielfach entscheiden. Die Umkehrung der Frage war also: „Stell dir vor, dein Leben fragt dich: ‚Welchen Sinn gibst du mir?‘ – was antwortest du?“

Das Ziel seiner therapeutischen Gespräche war, dem Gegenüber dabei zu helfen, sich quasi am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Was diesen Sinn ausmachen könnte, ist für jeden Menschen spezifisch – und durch Lebensumständen, Schicksal, Möglichkeiten begrenzt. Aber die Patienten sollten für sich persönlich ein „wozu“ im Leben entscheiden.

Im nächsten Schritt würden sie dann auch akzeptieren, was mit jeder Entscheidung an Alternativen ausgeschlossen wird. Sie sind ja in dem Moment bedeutungslos geworden, wo sie keine Möglichkeit mehr sind. Frankl nannte seine Methode des therapeutischen Gesprächs „Existenzanalyse“, später „Logotherapie“.

An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass der „Sinn“ im Leben nicht einfach mit „Zweck“ verwechselt werden darf. Das wäre sogar eine gefährliche Engführung. Was Frankl unter Sinn versteht, ist: was was den Menschen erfüllt. Das kann für den Einen eine praktische Aufgabe oder ein Beruf sein, für jemand anderes der Genuss von Musik, oder auch einfach die Liebe zu einem anderen Menschen.

Sinn kann auch bedeuten, den eigenen Platz im Leben mit Würde zu füllen. Der Film „Perfect Days“ von Wim Wenders, wäre ist ein großartiges Beispiel dafür. Der Protagonist darin erfüllt mit poetischer Würde seinen Beruf: er reinigt in Tokio öffentliche Toiletten

Überleben und Weiterleben nach Auschwitz

Die Wirkung Frankls reicht über die psychiatrische Fachwelt hinaus. Das liegt nicht zuletzt an seiner Biographie und dem selbst erfahrenen Leid. Es liegt daran, dass er mit seinem eigenen Leben belegt hat, wie seine philosophisch reflektierte Haltung tatsächlich in der tiefsten Hoffnungslosigkeit Zuversicht vermitteln kann.

Als in Österreich die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wandelte sich Frankls Leben zur Katastrophe. Er kam ins Konzentrationslager, überlebte knapp, wurde von amerikanischen Soldaten aus dem Lager Auschwitz befreit. Und entdeckte dann, dass seine Familie praktisch ausgelöscht war. Seine Eltern waren tot, sein Bruder, die Ehefrau mit dem ungeborene Kind…

Er berichtet über all das in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Und der Untertitel deutet bereits die sachliche Distanz an, um die er sich dabei bemüht: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Und der englische Titel verweist auf die Bemühung um Sinn als Lebensstrategie: „Man’s Search for Meaning“.

Es ist vor allem dieses Buch, mit dem Viktor Frankl international bekannt wurde. Wer es liest wird schon durch das persönliche Vorbild angeleitet, das eigene Leben mit mehr Aufmerksamkeit und Zuversicht anzugehen.

Es gehörte zu Viktor Frankls Überlebensstrategie im Lager, sich selbst und die eigene Existenz quasi von außen zu betrachten. Er schildert etwa, dass er sich während der Zwangsarbeit auf vereistem Acker vorgestellt, wie er dereinst in einem warmen Vortragssaal vor wohlwollenden Zuhörern über seine Zeit im Konzentrationslager berichtet. Und damit das gelingen konnte musste er ja überleben… Es wurde zu seinem „Sinn“, über das Konzentrationslager aus ärztlich-psychologischer Perspektive berichten zu können.

Orientierung und Selbstverantwortung heute

Die Aufgaben jedes Lebens sind spezifisch einzigartig. Damit auch die Frage nach dem Sinn, den wir unserem Leben verleihen. Es ist unsere Verantwortung, „das Beste“ daraus zu machen. Aber neben der individuellen Perspektive gibt es doch immer auch Gemeinsamkeiten und zeittypische Aufgaben und Herausforderungen. Charakteristisch in unserer Zeit etwa:

  • Die Überforderung durch das, was was als Information oder Nachricht in unser Bewusstsein dringt. Selbst wenn man nur seriöse Quellen wahrnimmt: Nachrichten, Informationen, Hintergründe, Entscheidungsdruck… – Was müsste man alles im Blick behalten und wissen?! Und fast alles ist im Detail komplexer, als es unser kleiner Menschenverstand es fassen kann.
  • Dazu das „Rauschen“ dessen, das sich als Skandal, Empörung oder Horrormeldung in den Vordergrund schiebt. Was immer das Handy, der Newsfeed im Browser oder der eigene Bekanntenkreis hergibt – eigentlich müssten wir ständig sortieren und entscheiden. Was ist glaubwürdig oder offensichtlich falsch? Was ist relevant für mich, was drängt sich nur durch den Unterhaltungswert des Skandals in den Vordergrund? Was ist moralisch richtig oder falsch?
  • Neu auch die Hin- und Hergerissenheit gegenüber sogenannter „künstlicher Intelligenz“: Wie weit kann ich maschinen-generierter Entscheidungshilfe oder Information trauen? Der Suchmaschine, dem Navi im Auto, der automatischen Übersetzung, dem Textvorschlag des Chat-Roboters, der medizinischen Diagnose oder gar Behandlungsempfehlung eines „ChatGPT“ oder „Copilot“…
  • Und alles das zusätzlich zu den realen, direkten Aufgaben des Lebens. Ob in der Beziehung oder der ungewollten Einsamkeit, in der Erziehung der Kinder oder der Selbstbehauptung in Schule, Ausbildung Job. Die Themen Geld, Gesundheit, Vorsorge, Alltagssorgen… das normale Leben eben.

Zur Verantwortung für sich selbst gehört auch, sich selbst zu führen. Dem eigenen Leben Sinn und Fokus zu verleihen. Zu entscheiden, womit und aus welchen Quellen ich meinen Geist „füttere“. Auch: wann und womit ich mich ablenke, um zu entspannen.

Wie schafft man das?

Viktor Frankl kann durchaus als Anregung und Vorbild zu dieser Art der Lebensführung dienen. Natürlich über die Lektüre seines Buches „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Oder auch über zahlreiche Vorträge, die man heute dank Youtube leicht finden und anhören.

Und natürlich ist Frankl nicht der Einzige, von dem man lernen kann, über den Sinn im eigenen Leben nachzudenken. Sokrates von Athen, Immanuel Kant, Karl Jaspers, Karl Reimund Popper, Augustin, Ernest Hemingway… Die Liste käme an kein Ende.

Die Hauptleistung aber nimmt einem niemand ab, die muss jeder selbst erbringen. Das Innehalten, Nachdenken und Entscheiden. Also in gewisser Weise die fortwährende philosophische Selbsttherapie. Die Aufgabe, uns selbst mit Wohlwollen zu führen.

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